Um kurz vor 6 Uhr morgens brechen wir auf. Wir wollen unbedingt vor der Rushhour in der Hauptstadt sein, um der mörderischen Fahrweise der Georgier zu entgehen.
Über leere Strassen kurven wir durch die Vorstadt ins Zentrum.
Alles schläft noch, die Miniläden sind noch geschlossen
Der Kakheti Highway bringt uns in die Stadt. Neben uns fließt träge und schlammbraun die Kura.
Bis an die Kante sind Häuser auf die Uferfelsen gebaut.
Wir steuern den großen Parkplatz der Public Service Hall an. 1 Womo und 3 Offroader parken schon hier. Moment mal…..da steht der Wagen von Pigi und Bernhard! Vor 2 Jahren haben wir uns im Lockdown in Griechenland kennengelernt. Überraschung!
Halb 7, zu früh für eine Stadtbesichtigung. Im angrenzenden Park verausgaben sich Frühsportler, wir schlendern über den Platz und bewundern einen Wagen mit klassisch georgischer Motorhaube und speziell angepasstem Nummernschild.
Im Westen sticht der Fernsehturm in den Himmel
Um 9 Uhr ist der Parkplatz randvoll, gut, daß wir so früh hier waren.
Schöner Oldtimer, oder? Hach, die alten Wagen haben noch Stil…
So, jetzt Stadtrundgang. Wie pures Gold schimmert das Dach der Hlg Dreifaltigkeitskirche hoch über der Stadt.
Durch den Dedaena Park wandern wir zum Flohmarkt an der Dry Bridge. Nur wenige Tische stehen an der Brücke. Vor allem Trödel aus vergangener Sowjetzeit wird angeboten. Ein bisschen Geschirr und Silberbesteck, selbstgemachter Schmuck, Münzen.
Wir wenden uns nach Süden, Richtung Altstadt. Durch ein Viertel mit prächtigen Gründerzeitbauten.
Quer über den Bürgersteig laufen tiefe Rinnen, Stolperfallen. Das Regenwasser wird darin direkt vom Dach auf die Strasse geleitet.
Die Häuser werden niedriger, verlieren an Pracht und Dekor, wir kommen in ein wesentlich älteres Viertel mit Flair.
Unter einer der vielspurigen Strassen hindurch, wird es wieder moderner. Lustige Gesellen tanzen herum, zwei freundliche Herren nehmen mich in ihre Mitte.
Dahinter das Altstadtviertel um den berühmten Glockenturm vom Marionettentheater, voll durchrenoviert. Ein schickes Ausgehviertel mit Cafés, Bars, Restaurants. Die alten Häuser strahlen in neuem Glanz. Sind die Verandas nicht herrlich?
Eine Freude, daß diese wundervollen Häuser nicht abgerissen, sondern erhalten werden. Auch wenn es vielleicht etwas zu hochglanzpoliert ist, für unseren Geschmack.
Der schiefe Glockenturm ist wie aus dem Märchen. Wir sind pünktlich, kurz vor 12 Uhr, um das Glockenspiel zu sehen.
Es geht los: oben im Turm öffnet sich die Tür, ein Englein fährt auf den Balkon. Zack! Mit einem Ruck dreht sich der Engel nach links, hebt laaaangsaaaam den Arm und hämmert zwölfmal auf die Glocke. Dreht sich, fährt zurück, Klappe zu. Niedlich!
Das anschließende Puppenspiel „Zyklus des Lebens“ auf dem unteren Balkon können wir leider nicht sehen. Es wird renoviert und von einer Plastikplane verhüllt. Schade….
Natürlich waren wir hier nicht alleine…
In einem kleinen Park stärken wir uns mit einem Granatapfelsaft, frisch gepresst und köstlich, aber mit umgerechnet 6,- € recht teuer.
Dann geht es weiter hinein in die Altstadtgassen….von Hochglanz keine Spur mehr
Stattdessen „echtes Leben“. Ein sagenhafter Mix aus Verfall, gutem Zustand und Neuanbau. Eine außergewöhnliche Atmosphäre….irgendwie vertraut…
Aus einem der Häuser strömt dieser ganz bestimmte alte Geruch nach kaltem, leicht muffig-feuchtem Treppenhaus…..
„Das ist ja wie früher in den 80ern in Kreuzberg!“ freuen wir uns. Déja Vue! Zurückgebeamt in die Vergangenheit, großartig!
Weiter durch die Gassen, an jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken….
Einmal mehr abgebogen und alles verändert sich. Hier wird renoviert und erneuert. Um einen Platz herum sind die Häuser bereits fertig, eine offensichtlich teure, edle Wohngegend. Rechts noch alt und gebrechlich und links schon neu und schick.
Und über allen thront „Kartlis Deda“, die Mutter Georgiens, mit ihrem Schwert für die Feinde und der Weinschale für die Freunde.
Die nächsten Gassen wieder im Originalzustand. Fast alle Häuser sind bewohnt und ja, die Wohnverhältnisse sind alles andere als komfortabel, aber, ach, es ist einfach wunderschön….
Manches Schmuckstück verbirgt sich hinter Bäumen und hohen Mauern
Innenhöfe zum träumen…
Ob wir diese Treppe gerne hochlaufen würden? Im Winter…..mit Eis drauf? Hm…..nein.
Langsam kehren wir zurück ins Vergnügungsviertel. Hier sitzt ein kleiner Tamada – das ist derjenige, der bei Festen für die Trinksprüche zuständig ist.
Ist das nicht Frankie Boy? Und was steht da auf dem Schild?
Ein flotter Trinkspruch!
Bei diesem Haus mischt sich Alt und Moderne. Wir finden, es passt gut zusammen. So kann moderner Denkmalschutz aussehen.
In einem Parkrestaurant stärken wir uns mit Khachapuri. Grüne Parks gibt es viele in Tiflis und viele Brunnen. Manche zur Freude und manche mit Trinkwasser. Unter den Bäumen sitzen viele, viele Leute. Lesen, plaudern, telefonieren, sehr schön. Eine lebendige Stadt.
Wir laufen wieder los, jetzt auf die andere Seite der Kura.
Kleine Gründerzeithäuser, dicht an dicht. Mit fantastischen Hinterhöfen und Gärten….Eins fällt sofort auf: viel mehr Autoverkehr.
Die Fahrradwerkstatt wird auf die Strasse verlegt. Der Reifenhändler bietet stapelweise Altreifen mit wenig Profil an. Die Regenrinnen begießen die Fußgänger von oben.
Ab und zu kleine Geschäfte, das Viertel wird bunter. Vor uns ein Miniladen: Books & Records, da gehen wir mal rein. Alte Bücher stehen in hohen Stapeln auf dem Boden, ein paar Platten sind an die Wand gepinnt. Adriano Celentano, Beatles, Scorpions, russische Interpreten. Betreut wird die kuriose Sammlung von einer älteren Dame. Für uns ist leider nichts passendes dabei.
Eine große Fabrik führt ein neues Leben als Hostel und multifunktionalem Ort. Die „Fabrika“, bunte Oase in der Stadt und ein bißchen Schickimicki….
Die Stromverteiler faszinieren uns:
Wir wollen zum Markt am Hauptbahnhof. Vor allem, um Gewürze zu kaufen. Der Markt soll großartig sein.
Aber irgendwo verfranseln wir uns. Der Markt, den wir schließlich finden, ist………authentisch?
Durch einen dunklen Korridor geht es vorbei an Kleidern
zur Fleischabteilung. Hinter kleinen Tischen sitzen ältere Herrschaften. Auf den Tischen liegen Schweinefüßchen, Nieren und Leber, ab und zu ein Brocken Fleisch. Keine Kühlung, keine Abdeckung. Große Eimer mit Pansen stehen auf dem Boden. Es riecht sehr….naturbelassen.
Draußen sind Obst- und Gemüsestände aufgebaut. Wir kaufen Erdbeeren.
Hinter den Ständen steht eine große Lagerhalle. Darin ein paar Lkws und schlafende Lagerarbeiter auf ihren Ladekarren
Es riecht überall scheußlich nach Müll. Manch eine Marktfrau liegt schlafend mit dem Kopf auf dem Tisch zwischen dem Gemüse. Käse schmilzt in der Sonne. Fliegen summen herum.
Unverfälschter Alltag…..
Wir machen uns auf den Rückweg. Unsere Erdbeeren sind überreif und matschen unterwegs in der Tüte zu Mus…..
Müde, kaputt und durstig….wir laufen und laufen und laufen…..
Keine Energie mehr für noch ein anderes Stadtviertel. Wir wollen nur noch zum Dedaena Park zurück und dort in den Biergarten….
YES!
Neben uns kreischen und quietschen die Kinder im Springbrunnen
Vor uns liefern die coolen Skaterkids eine Supershow
Für Unterhaltung ist also gesorgt, Getränkenachschub auch, hier bleiben wir erstmal sitzen und erholen uns. 16 Kilometer sind wir heute durch Tiflis gelaufen, von Süd nach Nord und zurück
Später, auf dem Parkplatz bei der Rappelkiste, lernen wir Dirk kennen. Aus Deutschland nach Tiflis ausgewandert. Abends kommen seine Tochter und er hierher zum Longboard fahren. Er erzählt viel Interessantes über seine Erfahrungen in Georgien. Zum Beispiel über die unglaublich gut organisierten Behörden, alles digital, versteht sich. „Schnell, effizient, problemlos und die Mitarbeiter sind freundlich!“ Unvorstellbar! Ein Traum!
Wir erfahren, daß es sowas wie Tüv für die Autos gibt. „Aber wie kommen die denn da durch ohne Stoßstangen, Heckscheiben, Motorhauben?“ „Dafür gibt es Verleih. Du leihst dir am Prüfungstag eine Motorhaube und bringst sie später zurück.“ Auch eine gute Idee!
Danke für die nette Unterhaltung, Dirk! Schön, dich kennengelernt zu haben!
Auf dem Parkplatz ist noch viel los, Skater, Radfahrer, Spaziergänger. Wir treffen Pigi und Bernhard. Sie waren im Marionettentheater. Das Stück war zwar mit englischen Untertiteln, aber trotzdem nicht ganz durchschaubar. Etwas sozialkritisches mit jeder Menge Seitenhieben auf Russland.
Ein schöner Abend. Um 22 Uhr ziehen wir nochmal los zur Friedensbrücke, im Volksmund „Always Ultra“ genannt. Die Form erklärt, warum. 30.000 LEDs beleuchten sie, das Spektakel wollen wir unbedingt sehen.
Es ist nur ein kurzer Weg an der Kura entlang, einmal um die Public Hall herum.
Joa, ganz nett, aber ganz und gar ohne Spektakel. Es leuchtet etwas heller und dann etwas dunkler… Die röhrenförmige Konzerthalle am anderen Ufer finden wir faszinierender.
Auf dem Berg leuchtet bunt der Fernsehturm.
Es ist noch viel zu warm um schlafen zu gehen. Wir sitzen auf der Rappelkistentreppe und sehen den Skatern auf dem Parkplatz zu. Toll, wie belebt die Parks und Plätze sind, voller Leute, bis tief in die Nacht.
Tiflis ist beeindruckend, die alten Häuser bezaubernd, die moderne Architektur oft überraschend. Die Atmosphäre in den alten Stadtteilen hat uns begeistert! Die einstige Pracht, die verzierten Holzverandas und die verträumten Hinterhöfe. Genauso die liebevoll gestalteten Parks, die Wasserspiele, wie sehr die Menschen hier die Parks nutzen und beleben. Auf jeden Fall ist Tiflis einen zweiten Besuch wert.
Wir fahren morgen schon weiter, denn so langsam müssen wir uns sputen. Unsere Termine in Berlin rücken unaufhaltsam näher, leider.
Mit Siebenmeilenstiefeln sausen wir morgen los zum Schwarzen Meer.
Liebe Grüße, bis bald!
Julia & Martin
Drink positive!
Auf Instagram: Rappelkisteberlin
Schreibe einen Kommentar